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Ärztepräsident fordert: „Wir sollten der Pflege mehr zutrauen“

Als erster Hausarzt ist der Bielefelder Klaus Reinhardt Präsident der Bundesärztekammer. Im Interview spricht er über volle Praxen, die Reform der Notfallversorgung sowie fehlende Medizin-Studienplätze

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Steht an der Spitze der Bundesärztekammer: Der Bielefelder Allgemeinmediziner Klaus Reinhardt ist seit acht Wochen Präsident der Kammer. Trotzdem praktiziert er noch in seiner Praxis. | © Hartmannbund

Steht an der Spitze der Bundesärztekammer: Der Bielefelder Allgemeinmediziner Klaus Reinhardt ist seit acht Wochen Präsident der Kammer. Trotzdem praktiziert er noch in seiner Praxis. | © Hartmannbund

29.07.2019 | 29.07.2019, 16:59

Herr Reinhardt, Sie stehen seit Kurzem an der Spitze der Bundesärztekammer. Praktizieren Sie noch als Hausarzt in ihrer Praxis in Bielefeld?
Klaus Reinhardt:
Ja, ich habe zwar deutlich reduziert, bin aber weiterhin jeden Montag in der Praxis. Es ist natürlich nicht einfach, beides unter einen Hut zu bringen, aber mir ist diese Zeit wichtig, vor allem für die Patienten, die schon lange bei mir in Behandlung sind. Außerdem möchte ich den Bezug zur Praxis nicht verlieren und wissen, was die Patienten bewegt.

Die Praxen von Hausärzten sind besonders überlaufen. Gleichzeitig fordern Sie mehr Zeit für Patienten. Wie lässt sich das umsetzen?
Reinhardt:
Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, die wir nur lösen können, wenn wir ehrlich darüber reden, warum die Praxen so voll sind. Zum einen ist die Bevölkerung älter geworden und deshalb anfälliger für Erkrankungen. Der Behandlungsbedarf steigt also. Es gibt aber auch Faktoren, die sich ändern lassen. Manchmal kommen Patienten zu uns, die für jede Erkrankung zwei oder drei Fachärzte aufsuchen und das System damit über Gebühr beanspruchen. Die Zahl dieser Patienten muss evaluiert werden, damit wird endlich wissen, wie groß dieses Problem ist. Und dann gibt es Patienten, die trotz guter Einstellung einer chronischen Erkrankung alle drei Monate in die Praxis kommen müssen, weil sie zum Beispiel ein neues Rezept benötigen. Diese starren Strukturen müssen wir aufbrechen. Besser wäre es, bei jedem Patienten individuell zu prüfen, wie häufig er in die Praxis kommen muss. Lösen wir diese Probleme, können wir die Arbeit in den Praxen entzerren. Dann bleibt den Ärzten wieder mehr Zeit für den einzelnen Patienten.

In immer mehr Hausarztpraxen arbeiten sogenannte nicht-ärztliche Praxisassistenten. Ist das ein Weg, um Ärzte zu entlasten?
Reinhardt:
Ja, vom Einsatz dieser Assistenten profitieren die Patienten und das Praxisteam. Die Fachkräfte sondieren und übernehmen in Abstimmung mit dem Arzt auch Hausbesuche und Besuche im Pflegeheim. Wichtig ist aber, dass hier kein eigenständiger Versorgungsbereich entsteht. Die Gesamtverantwortung muss beim Arzt liegen. Dabei geht es nicht darum, dass der Arzt Chef ist, sondern darum, dass die Person mit der höchsten Kompetenz auch die Verantwortung trägt. Grundsätzlich sollten wir der Pflege mehr zutrauen und die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflegekräften verbessern und intensivieren. Allerdings nicht auf dem Weg der stärkeren Akademisierung der Pflege. Denn die Erfahrung zeigt, dass die Pflegekräfte, die sich akademisch weitergebildet haben, sich zum Großteil von der eigentlichen Pflegetätigkeit verabschieden und eher im Controlling oder anderen Bereichen arbeiten.

Die geplante Reform der Notfallversorgung verunsichert viele Bürger. Gesundheitsminister Jens Spahn plant integrierte Leitstellen und Notfallzentren, auch, um die Notaufnahmen und Rettungswagen zu entlasten. Ist das der richtige Weg?
Reinhardt:
Das Modellprojekt der integrierten Leitstelle im Kreis Lippe zeigt, wie die Leitstelle der Zukunft aussehen kann. Wenn gut qualifizierte Fachkräfte Patienten aus mehreren Kreisen beraten und die Rettungsmittel organisieren, profitieren alle Beteiligten. Dieses Prinzip der integrierten Notfallzentren wird in vielen Teilen von Westfalen-Lippe bereits seit Jahren erfolgreich gelebt. In Bielefeld habe ich mit Kollegen schon vor 20 Jahren die Notfallpraxis des ärztlichen Bereitschaftsdienstes am Klinikum Bielefeld gegründet, die mittlerweile im Klinikum untergebracht ist. Durch diese Konstellation kann schnell geklärt werden, ob Patienten in die Ambulanz oder in die Notfallpraxis müssen. In Westfalen-Lippe arbeiten wir also schon seit Jahrzehnten in Strukturen, die Gesundheitsminister Spahn jetzt bundesweit umsetzen will. Klären muss die Politik allerdings, welche Krankenhäuser diese integrierten Notfallzentren erhalten, denn die niedergelassenen Ärzte können es nicht leisten, Präsenz in allen Krankenhäusern zu zeigen.

In Bielefeld entsteht gerade eine medizinische Fakultät für 300 Studenten. Reicht das oder muss die Zahl der Studienplätze weiter aufgestockt werden?
Reinhardt:
Das reicht nicht. Wir benötigen mehr Studienplätze. Im Vergleich zum Jahr 1990 haben wir bundesweit ein Drittel weniger Medizin-Studienplätze. Außerdem steigt der Bedarf an Ärzten, weil die Gesellschaft älter wird, die Zahl der Ärzte in Teilzeit wächst und aufgrund neuer Arbeitszeitmodelle mehr Ärzte eingesetzt werden müssen. Ich würde die Zahl der Studienplätze erheblich erhöhen und dann evaluieren, ob die Zahl ausreicht.

Die Organspende in Deutschland soll reformiert werden. Sie haben das Modell aus Israel mit in die Diskussion eingebracht, wonach die, die selbst zur Spende bereits sind, bei der Vergabe bevorzugt werden können.
Reinhardt:
Ich setze mich klar für den Vorschlag von Gesundheitsminister Spahn ein, der die Widerspruchslösung in Deutschland einführen will. Das Modell aus Israel halte ich jedoch für diskussionswürdig. Ich finde es spannend, den Empfang eines Spenderorgans von der eigenen Bereitschaft zur Spende abhängig zu machen. Rein rational betrachtet ist das logisch. Um die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen, ist es aber viel wichtiger, dass der enorme Aufwand der Krankenhäuser entsprechend gegenfinanziert wird. Intensivmediziner benötigen Zeit, um Familien von hirntoten Patienten zu betreuen, doch dafür haben in der Vergangenheit häufig die Ressourcen gefehlt.

Information


Zur Person: Klaus Reinhardt

Klaus Reinhardt steht als erster Hausarzt an der Spitze der Bundesärztekammer. Zudem ist er Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe und Bundesvorsitzender des Ärzteverbandes Hartmannbund. Der 59-jährige Bielefelder arbeitet seit 1993 als niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin in seiner Praxis in Bielefeld, die er von seinen Eltern übernommen hat. Aktuell arbeitet Reinhardt in der Gemeinschaftspraxis mit drei weiteren Medizinern.

Reinhardt studierte von 1980 bis 1981 in Bonn Philosophie und Jura, da er für das Fach Medizin wegen des Numerus Clausus nicht zugelassen wurde. 1982 wechselte er an die Universität Padua in Italien, da eine Zulassung in Deutschland nicht absehbar war. Dort legte Reinhardt 1989 das Staatsexamen ab.