WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Regionales
  3. Hamburg
  4. Hamburgs Gesundheitssenatorin über Pflegeheime, Impfchaos und Lockdown

Hamburg Hamburgs Gesundheitssenatorin

„Ein Pflegeheim ist kein Mikrokosmos“

Redaktionsleiter Hamburg und NRW
Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) sieht keine Chance, Pflegeheime komplett abzukapseln – das wäre auch nicht im Sinn der Bewohner und Angehörigen Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) sieht keine Chance, Pflegeheime komplett abzukapseln – das wäre auch nicht im Sinn der Bewohner und Angehörigen
Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) sieht keine Chance, Pflegeheime komplett abzukapseln – das wäre auch nicht im Sinn der Bewohner und Angehörigen
Quelle: Bertold Fabricius
Gesundheit, Soziales, Arbeit: Bei Senatorin Melanie Leonhard (SPD) laufen die Pandemie-Stränge in Hamburg zusammen. Über Lockerungen will sie erst Ende Februar sprechen – über das Impfchaos und Fehleinschätzungen schon jetzt.

Im Postfach von Melanie Leonhard (SPD) laufen ständig neue Mails ein, viele Hamburgerinnen und Hamburger schildern ihre Erfahrungen mit der Impftermin-Vergabe. Der Ton ist dabei nicht immer freundlich, manche bedanken sich aber auch für ihre schon erfolgte Impfung.

Dennoch: Auch die Senatorin für Gesundheit, Soziales und Arbeit wird in Mithaftung für das „Impfchaos“ genommen. Gleichzeitig wächst in der Stadt die Hoffnung auf Lockerungen, denn der Inzidenzwert ist zuletzt deutlich gesunken. Doch Leonhard will den vorsichtigen Kurs weiterfahren. Immerhin: Die Situation in den Pflegeheimen könnte sich durch den Impf-Fortschritt schon bald entspannen, sagt die 43-Jährige, die als Landesvorsitzende der SPD auch einen Rat an ihre Partei für den anstehenden Bundestagswahlkampf hat.

WELT AM SONNTAG: Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern und Ihre Parteigenossin, hat jüngst in einer Talkshow ihrem Frust über die Impfsituation freien Lauf gelassen. Hatten Sie schon einen ähnlichen Moment?

Melanie Leonhard: Nicht in so einem öffentlichen Rahmen. Aber wie frustrierend es ist, wenn von den Herstellern oder auch dem Bundesgesundheitsministerium schmucklos eine neue Lieferliste geschickt wird und dabei viel niedrigere Werte als zuvor abgesprochen auftauchen, das weiß ich auch. Da bin ich auch schon mal in meinem Büro aufgesprungen und habe laut geflucht.

Lesen Sie auch
Wirtschaftsminister Peter Altmaier: "Wir müssen gemeinsam alle Kräfte bündeln"
Wirtschaftsminister Altmaier

WELT AM SONNTAG: Hat sich diese Lage seit dem Impfgipfel am vergangenen Montag geändert?

Leonhard: Das kann ich noch nicht feststellen, aber es ist ja auch erst wenig Zeit vergangen. Da ging es ja auch eher um langfristige Planungen. Bis Ende März wird es zu wenig Impfstoff geben und wir müssen sehen, wie wir damit umgehen.

WELT AM SONNTAG: Die Fehlersuche läuft überall. Was ist aus Ihrer Sicht so schiefgelaufen bei der Impfstoffbestellung?

Leonhard: Es gab sicherlich Fehleinschätzungen. Im Spätsommer wurde zum Beispiel angenommen, dass AstraZeneca zuerst mit einem Impfstoff auf den Markt kommen wird. Entsprechend große Mengen wurden dort bestellt. Am Ende hat aber Biontech/Pfizer das Rennen gemacht, hier gab es nicht so viele Bestellungen, und wir sind mit einer viel geringeren Menge als erwartet gestartet. Retrospektiv gesehen kann man sagen, dass es besser gewesen wäre, überall viel zu bestellen. Wäre dann einer der Hersteller aber nicht durchs Ziel gegangen, hätte es wieder eine andere Debatte gegeben.

WELT AM SONNTAG: So wurde zwar zunächst Geld gespart, was sich jetzt aber rächt, weil der längere Lockdown noch viel mehr Geld kostet.

Anzeige

Leonhard: Das kann man jetzt so sehen, damals war die Debatte aber eine andere. Ob deswegen jetzt sehr viel mehr Impfstoff da wäre, kann man nicht mit Sicherheit sagen, denn die Herstellung ist ein sehr komplexer Vorgang.

Lesen Sie auch
Schulen, Impfungen, Gesundheitsämter: nur drei der deutschen Corona-Baustellen
Deutschland und die Pandemie
Lesen Sie auch
Alle ringen um den Impfstoff – und auch die EU und Deutschland ziehen nicht immer an einem Strang
Politische Fehler - eine Rekonstruktion

WELT AM SONNTAG: Mit der Produktion hängt die Impfterminvergabe eng zusammen. Würden Sie den Satz unterschreiben, der jetzt immer wieder zu hören ist: „So geht man mit älteren Menschen nicht um“?

Leonhard: Ich kann das sehr gut verstehen, und viele der Betroffenen haben sich auch bei mir persönlich oder in der Behörde gemeldet. Die Menschen, die jetzt 80 Jahre und älter sind, hatten natürlich die Erwartungshaltung, jetzt schnell geimpft zu werden. Wenn dann noch hinzukommt, dass eine Hotline nicht richtig funktioniert oder die Online-Vergabe hakt, dann ist der Ärger auch bei uns groß. 

WELT AM SONNTAG: Warum favorisieren Sie dann dieses Vergabe-Verfahren? Wenn ohnehin alle ein Impfangebot bekommen sollen, könnten Sie doch auch selbst nach einem Zufallsprinzip einladen. 

Leonhard: Aber dann haben Sie das Problem, dass sehr umständlich wieder ausgeladen werden muss, wenn der Impfstoff dann doch nicht da ist. Dieses Einladungsverfahren, das Sie beschreiben, hat einen längeren Vorlauf und schafft bei Veränderungen des Prozesses eine neue schwierige Situation. Auch wenn jetzt der Ablauf nicht befriedigend war, konnten wir doch in der vergangenen Woche mehr als 30.000 Termine vergeben. Ebenso wichtig: Wir können sicherstellen, dass diese auch mit Impfstoff hinterlegt sind.

WELT AM SONNTAG: Die Plattform, die Hamburg benutzt, stammt von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Nun wurde angekündigt, dass Hamburg auf den Ablauf dort doch Einfluss hat, eine Bandansage soll bei ausgebuchten Terminlagen laufen, im Internet soll eine Buchung während des Buchungsprozesses nicht mehr verloren gehen können. Hat Hamburg also da doch etwas zu sagen?

Leonhard: Wir haben die von uns beauftragten Dienstleister dazu aufgefordert, diese Maßnahmen umzusetzen, und das geschieht jetzt auch.

Anzeige

WELT AM SONNTAG: Schon in den ersten Tagen des Impfens hat sich die Staatsrätin der Gesundheits- und Sozialbehörde, Petra Lotzkat, impfen lassen – weil sie gerade in der Nähe war, als ein Impfrest aus einer Charge zu vergeben war. Fanden Sie das richtig?

Leonhard: Ich habe damals selbst gesagt: Es wird von dem Impfstoff nichts weggeworfen. Damals, Ende Dezember, waren nur die Impfteams unterwegs. In der konkreten Situation waren wenige Dosen übrig, es ist geklärt worden, ob andere Einrichtungen in Frage kommen – aber ein Transport war nicht möglich, und das Wegwerfen wäre die einzige Alternative gewesen. Unter diesen Bedingungen war es richtig, dass die ein Impfangebot bekommen haben, die in der Nähe waren, und dazu gehörte Frau Lotzkat. 

WELT AM SONNTAG: Ist das nicht ein sehr schwieriges Signal, wenn die Behördenführung sich mal eben mitimpfen lässt?

Leonhard: Das Signal, den Impfstoff ungenutzt zu vernichten, wäre genauso schwierig gewesen.

WELT AM SONNTAG: Blicken wir auf die Pflegeheime – klappt es denn, wie von Ihnen angekündigt, bis Mitte Februar alle Bewohnerinnen und Bewohner geimpft zu haben?

Leonhard: Wir liegen da zum Glück sogar etwas vor unserem Zeitplan, die Erstimpfungen sind durch, die Zweitimpfungen laufen dann in den kommenden Wochen und die sind bis Ende Februar abgeschlossen. Auch beim Pflegepersonal gibt es eine hohe Impfbereitschaft, die in den letzten Tagen auch zugenommen hat. 

WELT AM SONNTAG: Der überwiegende Teil der Menschen, die zuletzt an Covid-19 verstorben sind, lebte zuvor in Heimen. Wenn dort die Impfungen nun bald durch sind, ändert das für Sie etwas mit Blick auf mögliche Lockerungen?

Leonhard: Das wird kein Automatismus sein, denn es gibt auch außerhalb der Heime sehr schwere Krankheitsverläufe, die zum Tode führen oder zu schweren Folgeschäden. Wenn es um Lockerungen geht, müssen wir die Gesamtsituation im Blick behalten, also die Zahl der Neuinfektionen, die Belastung des Gesundheitssystems, die Entwicklung bei den Todesfällen und den Reproduktionswert.

Lesen Sie auch
Dystopische Szenarien für die nächsten Monate: SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (l.), Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Virologe Christian Drosten
Angst vor Corona-Mutanten

WELT AM SONNTAG: Das heißt, in der kommenden Woche wird Hamburg trotz sinkender Inzidenz-Werte keine Lockerungen beschließen? Die Stadt steht im Bundesvergleich gut da.

Leonhard: Das wäre jetzt dennoch zu früh. Die Infektionszahlen sinken, das stimmt. Aber der Prozess geht sehr langsam voran, die Schritte sind nicht so groß wie erhofft. Wir müssen zunächst mit dem Impfen vorankommen und beobachten, wie die Mutationen des Virus sich auswirken. Ende Februar kann man sich hoffentlich ein stabileres Bild machen. Entlastungen gibt es dann, wenn wir sie umsetzen können, zuallererst für den Kita- und Bildungsbereich, denn die Kinder und Eltern sind in sehr hohem Maße betroffen. 

WELT AM SONNTAG: Immer wieder wird gefordert, die Pflegeheime besser zu schützen, um das restliche Leben wieder hochfahren zu können. Ist das nicht eine gute Idee?

Leonhard: Wir haben schon sehr Schutz in den Pflegeheimen, es gibt zahlreiche Kontakt- und Hygienevorschriften, durch Schnelltests für alle, die dort hineinwollen, gibt es eine zusätzliche Sicherheit. Aber zu glauben, dass es eine völlige Abkapselung geben kann, ist ein Irrtum. Ein Pflegeheim ist kein Mikrokosmos, der nur für sich besteht. Das Personal hat ein Privatleben, aber auch die Bewohnerinnen und Bewohner haben ein Anspruch auf Teilhabe. Sie brauchen andere Menschen und Kontakt, viele Angehörige schreiben mir genau das. Das Problem ist, dass das Virus in bestimmten Phasen noch nicht nachweisbar, aber schon ansteckend ist und eine lange Inkubationszeit hat. Das wird man nie ganz aushebeln können.

Lesen Sie auch

WELT AM SONNTAG: In Ihrer Behörde für Gesundheit, Soziales und Arbeit laufen viele Bereiche zusammen, die von der Pandemie hart betroffen sind und die zuweilen gegenläufige Interessen haben. Ist der Behördenzuschnitt, der ja erst nach der Bürgerschaftswahl 2020 so vorgenommen wurde, zu groß?

Leonhard: Natürlich ist die Herausforderung groß . Im wahren Leben ist der Interessensausgleich aber immer konkret. Wenn ich mit Unternehmen oder Gewerkschaftsvertretern spreche, dann wird schnell klar, dass eine Rückkehr zu einer normalen Arbeitswelt nur dann möglich ist, wenn die Pandemie im Griff ist. Die Frage ist immer: Um welchen Preis öffnen oder schließen wir? Eine Öffnung zu einem falschen Zeitpunkt kann noch dramatischere Folgen haben. Eine Situation, in der wir Eislaufhallen öffnen müssen, um die Toten aufzubewahren, wäre der Wirtschaft ganz sicher nicht zuträglich. Die allermeisten Akteure wissen das auch.

WELT AM SONNTAG: Die Bürgerschaftswahl liegt nun fast ein Jahr zurück, die Grünen sind mit einem deutlichen Zuwachs an Stimmen in die neue Koalition gegangen. Das spiegelte sich bisher aber nicht wider, oder?

Leonhard: Die Herausforderungen sind in jedem Ressort groß, egal ob sie von der SPD oder von den Grünen geführt werden. Manche Fragen, die im vergangenen Jahr noch sehr im Vordergrund standen, werden derzeit vielleicht weniger diskutiert, weil viele Menschen auch mit existenziellen Ängsten konfrontiert sind. Der Austausch und die Solidarität im Senat sind aber groß, die Zusammenarbeit ist sehr zielgerichtet und angenehm.

Lesen Sie auch

WELT AM SONNTAG: Das Thema Corona könnte auch den Rest der Legislaturperiode – immerhin vier Jahre – bestimmen.

Leonhard: Das wird in vielen Zusammenhängen sicher so sein, gerade mit Blick auf den Arbeitsmarkt. Zu befürchten ist, dass manche Unternehmen verschwinden, weil Corona einen Abwärtstrend vielleicht noch verstärkt hat. Aber die akute Pandemie-Bekämpfung wird hoffentlich nicht für einen so langen Zeitraum das Hauptthema bleiben.

WELT AM SONNTAG: Deutlich aktueller steht der Bundestagswahlkampf an. Der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ist sozusagen Ihr politischer Entdecker. Welche Chancen geben Sie ihm?

Leonhard: Er hat gute Chancen, Bundeskanzler zu werden. Mit seiner Kompetenz, durchdachten Kontinuität und Nachhaltigkeit genießt Olaf Scholz ein großes Vertrauen bei den Deutschen. Derzeit ist für viele der Alltag anstrengend genug, und niemand hat ein Interesse an Wahlkampfgetöse.

„Wir wollen diesmal wieder alle sechs Wahlkreise gewinnen“

WELT AM SONNTAG: Die SPD wird aber irgendwann auch deutlich machen müssen, welche Machtoptionen sie für möglich hält. Sie gelten nicht als Freundin linker Bündnisse und waren nach dem Scheitern der Bildung einer Jamaika-Koalition im Bund dafür, dass die SPD erneut in eine große Koalition geht. Was raten Sie als SPD-Landesvorsitzende Ihrer Partei?

Leonhard: Wie müssen als Partei klar machen, welche Inhalte für uns obligatorisch sind. Und daraus ergibt sich dann von alleine, welche Bündnisse möglich sind und welche nicht. Es stimmt, dass ich für die große Koalition war, weil einige wichtige Themen mit der CDU umzusetzen waren: Kinderrechte im Grundgesetz oder das Thema Steuergerechtigkeit in Partnerbeziehungen oder Teilhabe am Arbeitsmarkt. Nicht alles ließ sich davon dann tatsächlich umsetzen. Da rate ich meiner Bundespartei, das gut abzuwägen: Wer ist vertrauenswürdig bei der Umsetzung solcher Fragen?

WELT AM SONNTAG: Was ist Ihr Ziel für Hamburg bei der Bundestagswahl? 2017 hat die SPD fünf von sechs Wahlkreisen gewonnen.

Leonhard: Das ist einfach: Wir haben gute Männer und Frauen in Berlin, und die will ich da weiter sehen. Wir wollen deshalb diesmal wieder alle sechs Wahlkreise gewinnen.

Dieser Text ist aus WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Packshot WamS S1 für N24 07_02_21
Quelle: Welt am Sonntag

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema