Im 100. Jahr ihres Bestehens wird die Öffentliche Rechtsauskunft (ÖRA) in Hamburg um eine Schlichtungsstelle zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung erweitert. Wer sich aufgrund seiner Behinderung von einer öffentlichen Stelle, beispielsweise einem Amt, benachteiligt fühlt, erhalte dort von 2023 an Hilfe, kündigte Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) am Dienstag an.
Die Schlichtungsstelle werde allen Menschen mit Behinderungen sowie Verbänden kostenfrei offen stehen, erklärte Leonhard. Die Aufgabe der Stelle werde es sein, Streitigkeiten außergerichtlich beizulegen. Sie werde niedrigschwellig, barrierefrei und unabhängig arbeiten, hieß es. Deshalb sei sie bei der ÖRA bestens angesiedelt. Wie dort schon seit 100 Jahren üblich, soll auch die Beratung der Menschen mit Behinderung von ehrenamtlichen Richtern und Anwälten übernommen werden.
„Hauptaufgabe der ÖRA ist die Rechtsberatung außerhalb gerichtlicher Verfahren für Menschen, die sich - salopp gesagt - keinen Anwalt leisten können.“, erklärte Friederike Klose. Genau seit dem 4. Oktober 1922 gibt es die ÖRA, die eine echte Hamburgensie ist. Rechtsberatung gibt es zwar bundesweit, aber in dieser Form nur in der Hansestadt.
„In Hamburg gab es schon im frühen 20. Jahrhundert soziale Bestrebungen, wie man die Armen darin unterstützt, zu ihrem Recht zu gelangen“, sagt Klose, die 2019 die Leitung eines Gefängnisses gegen die Leitung der Öffentlichen Rechtsauskunft tauschte. Schon vor mehr als 100 Jahren habe es in der Stadt die ersten Vereine zur Rechtsberatung gegeben.
„Der größte wurde vom jungen Gerichtsassessor Hannes Kaufmann betrieben, der sich sehr dafür engagiert hat, dass die Stadt die Sozialfürsorge auch in diesem Bereich übernimmt.“ Und damit habe er sich schließlich auch durchgesetzt. „Zwei Jahre nach Gründung des Hamburgischen Wohlfahrtsamtes – dem Vorläufer der Sozialbehörde – wurde die Rechtsberatung Teil dieses Amtes“, sagt Klose. Und das ist sie auch noch heute.
In fast allen anderen Bundesländern ist die Rechtsberatung anders geregelt: Ratsuchende, die sich keinen Anwalt leisten könnten, müssten erst zum Amtsgericht gehen, erklärte Senatorin Leonhard. Dort erhielten sie einen Beratungshilfeschein und müssten sich dann selbst einen Anwalt suchen.
Keine leichte Aufgabe für die meisten der potenziellen Klienten. Denn in aller Regel seien Anwaltskanzleien nur auf einen bestimmten Rechtsbereich spezialisiert – und es seien mehrere Anfragen der Betroffenen nötig, bevor sie einen Anwalt für ihr Problem gefunden hätten. Ob der dann das Mandat übernehme sei zudem fraglich. Denn besonders hoch seien die Beträge nicht, die über den Beratungshilfeschein angerechnet werden könnten.
Die ÖRA berät ohne Gang zum Amtsgericht und ist zudem mit Juristen aus den unterschiedlichsten Disziplinen besetzt. Einer der ehrenamtlichen Mitarbeiter ist Klaus Tempke – ein ehemaliger Strafrichter. Seit er in einer Richterbesprechung vor mehr als 36 Jahren das erste Mal von der ÖRA hörte, ist er als Berater dort tätig.
Für ihn sei das gesellschaftliche Engagement selbstverständlich. „Wenn niemand das Gemeinwesen mit organisiert, dann geht es den Bach runter“, sagt der 71-Jährige. Für ihn als Strafrechtler sei es immer spannend gewesen, auch in anderen Rechtsgebieten tätig zu sein. Außerdem freue er sich, „wenn man einkommensschwachen Bürgern helfen kann mit Ergebnissen, die sie ohne Rechtshilfe sicherlich nicht erreichen würden.“
Auf 30.000 Beratungen pro Jahr kam die ÖRA vor Corona. „Wir sind sehr stolz drauf, dass es im vergangenen Jahr schon wieder 25.000 waren“, sagt Klose. Das Spektrum sei riesig. „Es gibt viel Arbeitsrecht, aber auch Familienrecht, Mietrecht, Zivilrecht in allen Formen - ganz viele Telekommunikationsverträge -, Strafrecht, auch die ganzen Straßenverkehrssachen. Das Sozialrecht ist ebenfalls ein großes Feld ebenso wie das Migrationsrecht - vom Asylverfahren bis zum Familiennachzug.“
Doch die ÖRA ist nicht nur Rechtsberatung, sie bietet auch Mediationen an und ist Vergleichs- und Gütestelle. Ein Verfahren bei ihr kann zudem gegen Verjährung helfen. Und das kann schon mal zu kuriosen Situationen führen, wie ÖRA-Leiterin Klose zu berichten weiß: „Ende 2003 reichten über 15.000 enttäuschte T-Aktionäre aus dem ganzen Bundesgebiet waschkörbeweise Anträge ein, um ihre Ansprüche gegen die Telekom vor der Verjährung zu sichern.“
Die ÖRA stellte das vor bis dato nicht gekannte Probleme. „Es wurden neue Faxgeräte gekauft, um einen fristgerechten Eingang zu ermöglichen. Am Nachtbriefkasten des Gerichts standen Polizisten, um sicherzustellen, dass der Kasten nicht überquillt und die Anträge die ÖRA fristgerecht erreichen“, sagt Klose. Es mussten sogar weitere Räume angemietet und neue Berater rekrutiert werden. „Und es hat Jahre gedauert, die Anträge alle sauber abzuarbeiten.“ Angesichts der nun bald 100-jährigen Geschichte der ÖRA war das aber wohl eher ein Wimpernschlag.