TK: Seit mehr als einem Jahr leben wir in Deutschland mit der Corona-Pandemie, die uns allen viel abverlangt. Wie haben Sie persönlich bisher diese Zeit erlebt?

Dipl.-Psych. Heiko Borchers: Wechselhaft. Meine Praxis konnte die gesamte Zeit geöffnet bleiben. Da hatte ich Glück. Und privat habe ich versucht, das Beste daraus zu machen. Oft habe ich mich darüber geärgert, wie unsensibel und psychologisch unklug die Politik mit uns Bürgerinnen und Bürgern umgeht. 

TK: Die Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen haben 2020 weiter zugenommen. Das belegen Zahlen für den TK-Gesundheitsreport. Allerdings konnten wir im Vergleich zu den Vorjahren keinen außergewöhnlichen Anstieg der Krankschreibungen erkennen. Auch die Zahl der Anträge auf Psychotherapie ist zumindest im ersten Halbjahr 2020 nicht stark gestiegen. Kommen die Menschen besser mit den Folgen der Corona-Pandemie zurecht als erwartet? Was erleben Sie in der Praxis?   

Borchers: Nein, ganz im Gegenteil, die Menschen kommen mit den Einschränkungen zunehmend nicht mehr zurecht. Ich bin überzeugt davon, da kommt noch was auf uns zu. Die beruflichen, sozialen und psychischen Schäden sind immens. Corona hat die Praxen für Psychotherapie zeitversetzt erreicht - aber dafür umso heftiger. 

Dipl.-Psych. Heiko Borchers

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TK: Was belastet die Menschen konkret und wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden und die seelische Gesundheit aus?

Borchers: Die Corona-Pandemie-Regelungen führen bei vielen Menschen zu sozialen, beruflichen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Einige werden ihre berufliche Existenz verlieren. Angststörungen und vor allem depressive Störungen nehmen zu. Ich bin überzeugt davon, dass es die Jüngsten besonders trifft. 
Erste Studien wie die COPSY-Studie aber auch die Eindrücke von Kollegen und Kolleginnen zeigen auf, dass sich die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Laufe der Corona-Pandemie verschlechtert hat. Fast jedes dritte Kind leidet ein Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. 

TK: Home-Office für Berufstätige, gleichzeitig die Kitas geschlossen und die Kinder im Home-Schooling - können Sie beschreiben, welche Belastungen und Folgen daraus für Betroffene und Familien entstehen? 

Borchers: Vielfach handelt es sich um mobiles Arbeiten unter schlechten Bedingungen und nicht um ein Homeoffice. Kein Büro, kein Schreibtisch, dafür die Kinder zuhause, auf dem Schoß und auf dem Boden krabbelnd. Darüber hinaus fehlt der kollegiale Kontakt und Austausch. Viele fühlen sich mit der Situation überfordert.

TK: Kinder leiden ganz besonders unter den Folgen der Pandemie. Welche Auswirkungen erwarten Sie langfristig für diese Personengruppe und mit welchen Maßnahmen, losgelöst von der Psychotherapie, können soziale und seelische Defizite reduziert werden? 

Borchers: Kurz gesagt, erwarten wir eine Zunahme von Verhaltens- und emotionalen Störungen. Übrigens nicht nur im Kindesalter sondern auch im Jugendlichen- und jungen Erwachsenenalter. Auch diese Gruppe leidet unter den Einschränkungen. So suchen auch Studierende zunehmend unsere Praxen auf. Wünschenswert ist die baldige Rückkehr zur Normalität. Kinder und Jugendliche müssen sich wieder unbefangen mit Freunden treffen dürfen, Sport treiben oder in die Schule und zur Uni gehen können. 

TK: Rasant gestiegen ist in Coronazeiten laut den uns vorliegenden Abrechnungsdaten aus dem ersten Halbjahr 2020 die Zahl der Video-Therapiestunden. Wo sehen Sie Vorteile von Videosprechstunden und wo sehen Sie Grenzen? 

Borchers: In diesen Zeiten sehe ich Vorteile in der Möglichkeit, Kontakt zu Patientinnen und Patienten zu halten und somit die therapeutische Beziehung zu bewahren. Viele Patientinnen und Patienten brauchen das. Oft kann auch per Video ansatzweise an Problemkonstellationen einer psychischen Erkrankung gearbeitet werden. Aber es ist nur ein Notbehelf! Der Standard muss die Psychotherapie in der Praxis von Angesicht zu Angesicht sein. Psychotherapie benötigt ein ganzheitliches Erleben des kranken Menschen. Dazu gehört, dass ich alles sehe, höre und gelegentlich auch rieche. Eine Alkoholfahne oder Cannabis-Geruch kann ich per Video nicht feststellen - gleiches gilt für Hinweise auf selbstverletzendes Verhalten. Auch deshalb sollten sich Patientinnen und Patienten nicht darauf einlassen, über lange Zeit ihre Behandlung nur per Video zu führen.