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Interview|Gesundheitswesen
Letzte Aktualisierung: 8. Februar 2024

Gesundheitsweiser Schreyögg: „Die gesamte Bevölkerung hat zu viele Arztkontakte“

Jonas Schreyögg, Wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Centre for Health Economics (Bild: Schreyögg) (Jonas Schreyögg (privat))
Jonas Schreyögg ist seit 2014 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Ihn besorgt der Zuwachs an stationären Medizinern und mahnt zu hausarztzentrierter Versorgung, damit die Bürger weniger Ärzte konsultieren.
Herr Professor Schreyögg, im Gesundheitswesen scheinen derzeit alle auf Krawall gebürstet: die Ärzte, die Pflegekräfte, die Apothekerinnen und Apotheker, die Krankenhäuser. Kollabiert Deutschlands medizinische Versorgung?
In den letzten zehn Jahren waren die öffentlichen Kassen gut gefüllt, und da hat die Politik – egal, welcher Partei – Probleme, die es im Gesundheitswesen unbestrittenermaßen gibt, mit Geld übertüncht. Die Defizite der Gesetzlichen Krankenkassen sind nicht coronabedingt, wie man es jetzt viel liest. Sondern das sind Strukturdefizite, die sich über Jahre aufgehäuft haben durch viele Gesetze, mit denen man mal hier, mal da Geld ausgeschüttet hat, die teils aber auch Veränderungen bewirkt haben. Dieses Geld war in den Zehner Jahren da. Das ist es jetzt nicht mehr und das ist schmerzhaft.
Für alle Akteure?
Die Krankenhäuser haben, besonders während der Pandemie, viele Ausschüttungen erhalten. Die niedergelassenen Ärzte wiederum haben diesem Geldsegen oftmals staunend zugeschaut und wollen jetzt auch Geld. Unser eigentliches Problem heißt aber nicht Geld, sondern: Fachkräfte. Wir machen zur Fachkräftesituation gerade im Sachverständigenrat ein Gutachten im Auftrag von Minister Lauterbach. Wie können wir die Verteilung der Fachkräfte in Deutschland verbessern und damit das, was viele als „Personalmangel“ titulieren, überwinden? Fachkräftesicherung ist aus meiner Sicht das Kernproblem, mit dem wir uns in den nächsten Jahren in der Gesundheitspolitik beschäftigen werden

„Die Zahl der Krankenhausärzte hat sich nahezu verdoppelt“

In Deutschland kommen auf 1.000 Einwohner 4,5 Ärzte. Wir liegen damit in Europa an der Spitze. Weniger Pflegekräfte pro Kopf als andere Länder hat Deutschland auch nicht …
… richtig, deshalb sage ich immer, dass Krankenhäuser mit mehr Geld in der Regel auch nicht mehr Fachpersonal kaufen können, da es nicht am Arbeitsmarkt verfügbar sind. Das Kernproblem ist: Ein Teil des medizinischen Personals arbeitet in Krankenhäusern, die wir gar nicht benötigen. Die Zahl der Krankenhausärzte hat sich in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt. Sogar dann, wenn Sie den Trend zur Teilzeitbeschäftigung berücksichtigen und in Vollzeitäquivalenten rechnen, ist es immer noch ein erheblicher Anstieg.
Wieso reden dann Krankenhäuser wie Praxen von Ärztemangel?
Fakt ist: Früher sind die Ärzte ungefähr zu einer Hälfte in den stationären, zur anderen in den ambulanten Sektor gegangen. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Sie gehen heutzutage ganz überwiegend in den stationären Sektor und das, obwohl wir Leistungen ambulantisieren wollen. Wir haben es mit einer Fehlentwicklung zu tun, über die kaum jemand spricht.
Hat das etwas mit der Feminisierung der Medizin zu tun?
Das ist nicht die Problematik, das zeigen die Zahlen! Die Teilzeitquote steigt bei Männern genauso wie bei Frauen. Dass nun trotzdem viele Krankenhäuser sagen, sie hätten Ärztemangel, ist vor allem auf eine Fehlverteilung zwischen den Krankenhäusern zurückzuführen.
Was genau meinen Sie mit „Fehlentwicklung“?
Die Medizin ambulantisiert sich international immer mehr. Früher kamen Patienten nach einem Herzinfarkt vier Wochen ins Krankenhaus. Heute bleiben viele dort nur wenige Tage, nachdem sie einen Stent bekommen haben, und können dann ambulant betreut werden. Doch fehlen in Deutschland im ambulanten Sektor oftmals die Optionen für Ärzte, sich anstellen zu lassen, die wiederum in Krankenhäusern gegeben sind.

Der Bund müsste Anreize setzen, damit ambulante Ärzte größere Einheiten gründen.

Was müsste passieren?
Der Bund muss aus meiner Sicht Anreize setzen, dass mehr ambulante Ärzte das unternehmerische Risiko eingehen, größere Einheiten zu gründen. Größere Einheiten sind für Ärzte als Unternehmer deshalb so risikoreich, weil angestellte Ärzte eine geringere Produktivität haben als Selbständige – das Gehalt muss aber dennoch mit Krankenhäusern konkurrieren können. Daher brauchen wir eine Unterstützung von arztbetriebenen großen Einheiten, Gemeinschaftspraxen oder Medizinische Versorgungszentren (MVZ). In diesen größeren Einheiten entstehen dann mehr Arbeitsplätze für angestellte Ärzte. Das könnte die Trendwende bringen.
Das Geschrei ist aber auch verständlich: Vielen Krankenhäusern droht die Insolvenz.
Ich war lange Aufsichtsrat eines öffentlichen Krankenhauses und weiß: Die Liquidität von Krankenhäusern unterscheidet sich deutlich nach Trägern. Als privates Krankenhaus muss ich gute Liquidität nachweisen, um mich für den Kapitalmarkt aufzuhübschen. Als öffentliches nicht unbedingt: Da habe ich sogar je nach Konstellation einen Anreiz, unterdurchschnittliche  Liquidität auszuweisen, denn ich weiß, dass ich im Zweifel passende Verstärkung von meiner Kommune oder vom Land erhalte.

„Insolvente Kliniken gehen nicht von heute auf morgen Pleite.“

Aber es gehen doch gerade reihenweise Kliniken insolvent.
Das sind überwiegend Eigen- und Schutzschirminsolvenzen von Kliniken, die seit Jahren Strukturprobleme haben. Die gehen nicht von heute auf morgen Pleite, sondern führen Insolvenzverfahren durch, um schneller umstrukturieren zu können. Dadurch können sie Abteilungen abbauen, haben andere Kündigungsfristen, u.a. für Verträge mit anderen Unternehmen. Das ist in anderen Branchen seit längerem Usus, und jetzt im Gesundheitswesen stärker angekommen. Das beschleunigt den nötigen Umstrukturierungsprozess. Übrigens auch in vorauseilendem Gehorsam: Die Szene merkt ja, wohin die Reform will. Ob bei den derzeitigen Insolvenzen am Ende wirklich mehr Krankenhäuser pro Jahr vom Netz gehen als in früheren Jahren: Das möchte ich erst mal sehen. Bisher zeigen die Zahlen das nicht.
Und was ist mit der Demografie? Müssen wir nicht Betten vorhalten, weil die Bevölkerung immer älter wird?
Dazu haben wir eine Studie gemacht: Bei dem starken Fallzahlanstieg bis 2016 – seitdem sind die Fallzahlen nicht mehr gestiegen – war ein Fünftel auf demografische und andere nachfrageseitige Ursachen, z.B. Anstieg von chronischen Erkrankungen, zurückzuführen. Alles andere waren angebotsseitige Anreize, etwa die Vergütung.
Die dazu führen, dass Deutschland nicht nur ein Land ist mit ganz besonders vielen Krankenhäusern, sondern mit exorbitant vielen stationären Behandlungsfällen.
Genau, obwohl die Fallzahlen seit 2016 ein Plateau gefunden haben, zeigt sich das eigentliche Problem: Wir haben eine viel zu hohe Inanspruchnahme an Gesundheitsleistungen. Wie können wir die in geordnete Bahnen leiten und idealerweise dabei sogar die Qualität der Versorgung verbessern? Und dazu müssen wir die Verteilung der Fachkräfte zu verbessern. Denn eigentlich haben wir pro Einwohner ja eine komfortable Zahl an Fachkräften.

„Es findet eine unkoordinierte Inanspruchnahme statt“

Das kann man sich als Patient nicht vorstellen, wenn man monatelang auf einen Facharzttermin wartet.
Wir müssen überall die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen reduzieren, sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich. Die gesamte Bevölkerung hat zu viele Arztkontakte, auch chronisch Erkrankte. Viele gehen direkt zum Facharzt und nicht selten zum fachlich nicht zuständigen. Einige haben sogar zwei Hausärzte! Es findet eine unkoordinierte Inanspruchnahme statt. So etwas gibt es in anderen Ländern nicht.
Sind wir ein Volk von Hypochondern?
Nein. Ich wäre gespannt zu sehen, was passieren würde, wenn wir eine hausarztzentrierte Versorgung einführten. Also dass jeder erstmal zum Hausarzt gehen muss, bevor er zu einem Facharzt geht – und zwar gleich zum richtigen Facharzt. Die Leute suchen sich ja heute ihre Ärzte selbst aus. Der Klassiker ist: Jemand wird kurzatmig, geht zum Pneumologen, und der schickt ihn zum Kardiologen. Dahin hätte ihn der Hausarzt unter Umständen gleich geschickt oder ihn selbst behandelt. Und das ist nur eins von vielen, vielen Beispielen.
Wenn er beim Kardiologen gelandet ist, bestellt der ihn mindestens einmal pro Quartal ein.
Dieser Anreiz entsteht zumindest in der Vergütung. Als Sachverständigenrat empfehlen wir schon lange Jahrespauschalen statt Quartalspauschalen für die Praxen. Diabetiker werden bis zu 20-mal im Jahr einbestellt, nur, weil es diese Vergütungsanreize gibt. Und nicht, weil es für ihre Versorgung notwendig wäre.

„Wir Deutsche tun uns schwer mit Planung“

Für die Hausärzte wird die Vergütung gerade dahingehend geändert, auch, damit der Beruf attraktiver wird.
Wir brauchen in der Tat mehr Hausärzte. Viele Bundesländer haben Hausarztquoten eingeführt. So können Abiturienten ohne Einser-Abi Medizin studieren und verpflichten sich dafür, auf dem Land zu arbeiten. Das scheint ein effektives Instrument zu sein, zumindest sind die Plätze besetzt. Ansonsten gilt: Deutschland ist kein Planungsstaat; wir Deutsche tun uns schwer mit Planung. In der Vergangenheit hat sich immer dann etwas verändert, wenn sich die Vergütungsanreize geändert haben. Daher sind eine Jahrespauschale und eine Prämie für Versicherte zur Incentivierung der Hausarztzentrierten Versorgung genau der richtige Weg.
Es wird viel geklagt darüber, dass der Pharmastandort Deutschland nicht innovativ genug ist. Wie sehen Sie das als Forscher?
Bei klinischen Studien haben wir das Problem der Daten. Wenn ich neue Mitarbeiter einstelle, dann sagen die mir oft, sie würden mit amerikanischen und britischen Daten arbeiten. Wenn ich dann sage, ich fände es schon wichtig, mit Daten der hiesigen Bevölkerung arbeiten, fragen sie: „Muss ich das, das ist doch so schwierig? Ich kaufe mir einfach den Datensatz von Medicare.“ Medicare ist die öffentliche Krankenversicherung der USA.
Liegt das an der Datenschutzgrundverordnung?
Eindeutig nein! Wir sind in Europa alle derselben DSGVO unterstellt, die ja sogar medizinische Forschung privilegiert. Nur wird das in Deutschland anders interpretiert von vielen Behörden. Das hat zunächst nichts mit Datenschutz zu tun, sondern einfach mit Behördenwirrwarr und Interpretation der DSGVO. Daher haben wir als Sachverständigenrat Gesetzesänderungen empfohlen, um Klarheit zu schaffen.  Eine Reihe von unseren Empfehlungen wurden ja jetzt auch im Gesundheitsdatennutzungsgesetz aufgegriffen. Nun müssen wir hoffen, dass die Umsetzung in die Praxis klappt.