Prof. Dr. Stephanie Stock ist Professorin für Angewandte Gesundheitsökonomie und patientenzentrierte Versorgung an der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln. Sie leitet kommissarisch das Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie (IGKE) und vertritt in dieser Funktion Prof. Dr. Karl Lauterbach, zurzeit Mitglied des Deutschen Bundestages und Bundesgesundheitsminister.
Sie leitet das Projekt frühstArt, das durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses gefördert wird.
In dem Projekt wird eine neue Versorgungsform für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren mit Übergewicht entwickelt, in der Praxis umgesetzt und wissenschaftlich begleitet. Wir wollten von Stephanie Stock wissen, wie die Idee zu frühstArt enstanden ist.
Stock: In Deutschland sind sieben Prozent der Jungen und fast elf Prozent der Mädchen im Alter von drei bis sechs Jahren übergewichtig, wobei diese Prävalenz bis zum 13. Lebensjahr auf rund 20 Prozent steigt. Besonders während der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Lockdowns hat der Anteil der Kinder mit Übergewicht und Adipositas weiter zugenommen. Die negativen Folgen von kindlichem Übergewicht sind weitreichend und umfassen unter anderem ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Probleme des Bewegungsapparats, Diabetes Mellitus und Fettstoffwechselstörungen. Zudem steigt das Risiko auf psychische Störungen, wie Depressionen oder Essstörungen. Angesichts dieser alarmierenden Entwicklungen und Konsequenzen ist es entscheidend, früh ansetzende Maßnahmen zu ergreifen, um dem Übergewicht im Kindesalter entgegenzuwirken und das Risiko von Folgeerkrankungen zu reduzieren.Genau hier setzt das Projekt frühstArt an. Über einen Zeitraum von einem Jahr begleitet ein speziell ausgebildeter Coach die Familien in ihrem Alltag. Dabei werden sie unterstützt und bei Bedarf an weitere Gesundheits- und Reha-Angebote vermittelt. Ziel ist es, Eltern und ihren Kindern bereits in jungen Jahren einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu vermitteln, um langfristig positive Veränderungen zu bewirken.
TK: Welche Chancen bietet die eigens für das Projekt entwickelte e-Health-Plattform/mHealth App für die Regelversorgung?
Stock: Die frühstArt-Web-Anwendung vernetzt die in der neuen Versorgungsform beteiligten Akteure. Es gibt nutzerspezifische Oberflächen für teilnehmende Kinder- und Jugendarztpraxen, für die Coaches sowie die teilnehmenden Familien. Die frühstArt Coaches können beispielsweise Quartalsberichte für Kinder- und Jugendärzte erstellen und hochladen. Die während der Verlaufskontrollen vom Kinder- und Jugendarzt erhobenen Daten werden dem Coach tagesaktuell angezeigt, und auch die Inanspruchnahme einer Reha-Maßnahme wird in der Web-Anwendung dokumentiert. Diese Bündelung und Verknüpfung der für die Behandlung relevanten Daten eines interdisziplinären Teams verspricht eine optimierte Versorgung dieser multifaktoriellen Erkrankung. Die Vereinfachung des Wissenstransfers und die digitale, fachliche Unterstützung bieten das Potenzial, zukünftige Arztbesuche zu reduzieren und die Kinder- und Jugendarztpraxen somit zu entlasten. Zudem bietet die Web-Anwendung für Familien neben einer umfassenden Ideensammlung die Möglichkeit, Ziele und Aufgabe zu erstellen und diese selber zu evaluieren. Auch können Familien über den Chat mit ihrem Coach zwischen den Hausbesuchen im Kontakt bleiben. Hier wird insbesondere das Potenzial darin gesehen, Wissensvermittlung zu erleichtern, Barrieren zur Aneignung von Gesundheitskompetenzen zu vermindern und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen zu stärken.
TK: Wo sehen Sie die Politik bei der Bekämpfung von Übergewicht gefordert?
Stock: Die Politik nimmt bei der Bekämpfung von Übergewicht und Adipositas im Kindesalter eine entscheidende Rolle ein, indem sie die Rahmenbedingungen für eine gesundheitsförderliche Umgebung schafft. In frühstArt setzt die Intervention in der häuslichen Umgebung an, um eine Verhaltungsänderung in den Familien zu bewirken. Zur Bekämpfung einer Adipositas ist eine umfassende Verhaltensänderung der Betroffenen auf verschiedenen Ebenen erforderlich, die in einer obesogenen Umwelt nicht immer leicht umzusetzen sind und viele Ressourcen auf Ebene des Individuums erfordern. Um die Adipositas-Epidemie langfristig zu bekämpfen, wäre es wünschenswert, auf verschiedenen Ebenen Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die gesundheitsförderliche Lebensgewohnheiten fördern.
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